Donnerstag, 14. Oktober 2010

Im Fegefeuer

Ich habe unlängst im Zug ein herrenloses Mobiltelefon gefunden und konnte es nicht lassen, alle darauf gespeicherten Nachrichten zu lesen, bevor ich das Gerät dem Zugbegleiter zur Weiterleitung an den rechtmässigen Besitzer übergab. Es war höchst pikant; doch nun frage ich mich, ob ich mich schwer am guten Stil versündigt habe? Therese R., per E-Mail

Sie unverfrorene Ketzerin, wie konnten Sie nur! Dafür werden Sie im Winter drei Tage lang in der Zürcher Bahnhofshalle angekettet, wo Sie jeder sehen und beschimpfen kann. Wollten Sie so etwas hören, richtig? Nun gut, stellen Sie sich Ihre gerechte Strafe für ihre Neugier einfach plastisch vor, dann ist es ja vielleicht auch schon gut.

Denn fein war das natürlich nicht, was Sie da getan haben. Es war ziemlich ungehörig – andererseits sicher auch lustig, nicht? Denn mit Ihrem Fund haben Sie völlig unverhofft intimen Einblick in das Leben eines Wildfremden bekommen, und das ist ja im Zeitalter von Celebrity-Magazinen, Casting-Shows und Big-Brother-TV ein hohes Gut. Für diesen Kick schalten andere Menschen jeden Abend die Glotze ein.

Mein Rat: Geniessen Sie, aber schweigen Sie einfach über all das, was Sie wissen – ganz ungeachtet der Tatsache, dass Sie die Person, der das Telefon gehört, nicht kannten. Denn sonst passiert Ihnen genau dasselbe bei Ihrer nächsten Zugfahrt und dieser böse Geist verfolgt Sie für den Rest Ihres Lebens. Schweigen Sie, um Ihre verdorbene Seele zu retten. Immerhin haben Sie das Gerät ja zurückgegeben, das dürfte man Ihnen beim jüngsten Gericht noch strafmildernd anrechnen.