Freitag, 16. April 2010

Schwarzleser

Mich stört es enorm, wenn andere Leute mir beim Zugfahren in meine Zeitung schielen, um gratis mitzulesen. Wie kann ich meinen Unmut stilvoll artikulieren? Leo P., Horgen

Lieber Leo, Ihre rührende Zuschrift scheint förmlich aus einer anderen, längst vergangenen Zeit zu kommen, denn: Heute liest die ganze Welt doch sowieso umsonst im Zuge – es liegen manchmal mehr Gratiszeitungen herum, als Passagiere in den Wagen sitzen. Sie aber haben vermutlich nicht eine solche Schnelllese-Postille in der Hand, sondern eine richtige, abonnierte Zeitung, welche diesen Namen noch verdient. Dazu erst einmal meine herzliche Gratulation. Sie gehören zu einer zwar schwindenden, aber ruhmvollen Gesellschaftsgruppe. Sie sind vermutlich ein etwas altmodischer, aber gepflegter Typ mit Manieren und ordentlicher Garderobe. Vielleicht tragen Sie sogar einen eleganten Hut. Sie haben Stil – und das merken die anderen Passagiere natürlich. Sie fallen mit Ihrer grossformatigen, «echten» Zeitung auf, und Sie erwecken Neugier oder Neid. Die anderen wollen auch so sein wie sie, und deshalb schielen sie Ihnen ständig in die Zeitung. Sie wollen sehen, ob da drinsteht, wie man im Leben zum Erfolg kommt. Seien Sie also nicht kleinkariert, sondern jener grossmütige Mann von Welt, den man in Ihnen sowieso vermutet, und verleihen Sie Teile Ihrer Zeitung an die anderen Passagiere. Geben Sie ganze Bünde zum Lesen weiter! Die anderen sollen ruhig auch einmal sehen, dass es noch Texte gibt, die länger als acht Zeilen sind.

Duftmarken

Leider kommt es oft vor, dass sich jemand zu mir ins Abteil gesellt, der penetrant riechende Parfums oder Deodorants verwendet. Wie kann ich darauf gewaltfrei reagieren? H.J. Hall, per E-mail

Körper- oder auch Mundgeruch gehören zu den letzten grossen Tabus unserer ach so offenen Gesellschaft. Man kann das Problem kaum ansprechen, ohne jemandem empfindlich zu nahe zu treten. Sie sprechen nun aber nicht so sehr das Stinken, sondern einen extensiv aufgetragenen künstlichen «Wohlgeruch» an, der Ihre Sinne irritiert. Ich kenne das gut, denn es gibt für jeden Menschen gewisse Parfums, die man einfach nicht leiden kann oder gar Kopfschmerzen verursachen. Und genau da liegt das Problem: Was für Sie penetrant duftet, ist für andere ein eleganter Wohlgeruch. Es gibt also, anders als beim durch mangelnde Hygiene verursachten Stinken, kein objektiv einklagbares Versäumnis. Früher hätte man noch das Fenster herunter reissen und sich demonstrativ hechelnd in die frische Luft hängen können, doch das ist bei den modernen Bahnwaggons aus verschiedenen Gründen nicht mehr möglich. Es bleibt ihnen also nur die Flucht. Wenn fliehen, wird der wandelnden Parfumwolke die Lust vergehen, sie zu behelligen. Oder verwickeln Sie die Person in ein Gespräch und entdecken Sie trotz der scheinbar inkompatiblen Duftvorstellungen vielleicht gemeinsame Interessen. Das könnte Linderung verschaffen, denn oft kann man einen Menschen ja genau darum nicht «riechen», weil er einem nicht bekannt oder sonst wie unsympathisch ist.

Kinderschreck

Kleine Kinder sind ja süss, aber machen im Zug oft einen Riesenkrach. Muss man die Rotzbengel auf Gedeih und Verderb rumbrüllen lassen und alles wortlos schlucken – oder darf man Ruhe einfordern? Stefan R., Wetzikon

Sie böser Mann Sie! Vor Ihnen hat man uns einst gewarnt: Der Kinderhasser, der jede nicht ganz ausgewachsene Kreatur zutiefst verachtet und sie am liebsten fesseln würde, um sie als Paket verschnürt an den Nordpol zu verschicken! Kleiner Scherz, ja? Denn tatsächlich können wir uns sehr gut in Ihre Situation versetzen und Ihren Ärger nachvollziehen. Kinder sind manchmal einfach die Pest. Vor allem, wenn sie länger stillsitzen müssen und ihnen langweilig wird – also im Zug. Sie beginnen dann zu turnen, zu krähen und sinnlos im Gang auf und ab zu gehen, wobei sie es besonders auf die Mitmenschen abgesehen haben, die sich zu konzentrieren versuchen. Die Bengel glotzen ungefragt auf Laptop-Bildschirme und stellen freche Fragen. Sie müssen das keineswegs schlucken. Es nützt zwar nichts, die Knirpse anzuschnauzen, doch Sie können sich vertrauensvoll an die Erziehungsberechtigten wenden, welche diese Bratzen üblicherweise begleiten. Von ihnen dürfen sie mehr Kontrolle einfordern. Die so Getadelten werden Ihnen natürlich auch nicht gerade um den Hals fallen. Aber damit sollten Sie leben können, denn Sie haben im ganzen Waggon Dutzende neuer Freunde gewonnen, die von Ihrem heroischen Auftreten als Robin Hood der Ruhesuchenden mitprofitieren. Da lohnt es sich also durchaus, ein bisschen den Kinderschreck zu spielen.

Hypnophobie

Ich ekle mich vor Menschen, die im Zug schlafen und mir gegenüber sitzen. Was kann ich tun? Saskia P., Biel

Seit der Mensch dazu übergegangen ist, nicht mehr dort zu wohnen, wo er auch arbeitet, muss er zur Unzeit aus den Federn und schnarcht dann eben im Zug noch ein Weilchen weiter. Nur für Menschen, welche ebenfalls pendeln, ist der Anblick von öffentlich schlafenden Artgenossen einigermassen normal. Alle anderen zucken innerlich zusammen, wenn jemand weggetreten umherhockt. Und oft ist es ja tatsächlich kein schöner Anblick: Die meisten Bahnschläfer sitzen wie halbleere Kartoffelsäcke da und lassen den Kopf zur Seite knicken; manchmal läuft etwas Speichel aus dem halb geöffneten Mund und bildet einen feinen Kontraststreifen auf dem Kragen der Jacke. Seltsam auch jene, die sich in Embryostellung quer auf zwei Sitzplätzen zusammenrollen und so ihre Nacht in den Morgen hinein verlängern. Verboten ist es allerdings nicht, im Zug zu schlafen. Und Lärm macht es auch nicht, aus-ser jemand hat eine schwere Dysfunktion der Atemwege. Vielleicht ist das «Powernapping» zwischen einem halben Dutzend S-Bahnhaltestellen sogar gesund.Sie fragen mich, was Sie gegen Ihre Aversion tun können? Eine gute Frage. Vielleicht schlafen Sie einfach auch? Sie könnten den Schläfern ein geschältes Rüebli in den Mund stecken. Experimentieren Sie! Auch gut: Springen Sie mit viel Geschrei auf und tun Sie so, als wurden Sie eben von einem Insekt gestochen. Und schon ist der Schlafwagen wieder hellwach. Jeden Morgen können Sie das allerdings nicht tun, sonst werfen die anderen Pendler Sie irgendwann aus dem Fenster.

Notfalls ankuscheln

Wenn der Fensterplatz belegt ist, ich mich aber auf den Gangplatz setzen möchte, macht die Person ihre Beine oft so breit, dass man den Platz kaum einnehmen kann. Sich an die Person zu schmiegen ist selten appetitlich. Was nun? Michael K., Spiegel b. Bern

Lieber Michael, diese Frage haben wir vor zwei Jahren in der allerersten Stilkolumne von «via» schon einmal besprochen. Es ist die mit Abstand am häufigsten gestellte Frage unserer Leser. Weil aber das Heft vom Sommer 2007 auch im hintersten Winkel des Bahnnetzes nicht mehr in den Abteilen hängen dürfte, kommen wir gerne auf das Problem zurück.Sie müssen wohl etwas mehr von sich geben als das abgelutschte «’sch no frei?». Gegen diese Tausendfach-Floskel sind viele Menschen heute offenbar immun, sie hören die Frage gar nicht mehr. Im Grunde ist sie auch kreuzfalsch gestellt, denn ob ein Platz frei oder besetzt ist, erkennt man bekanntlich daran, ob dort jemand sitzt oder nicht. Korrekt müsste man also fragen Sitzt hier schon jemand? Oder Darf ich mich zu Ihnen setzen? Auch sehr chic Würde es Sie stören, wenn ich mich auf diesen Platz zu Ihnen setze? Es kostet Sie ja nichts, ein paar sauber ausformulierte Worte auszusprechen! Ich bin mir sicher, dass sich der Rüpel, der so lässig auf zwei Sitzen herumfläzt, vor Schreck sofort ganz schmal macht. Übrigens: Nach der Verfügbarkeit eines Sitzplatzes zu fragen tut man nur im Bahn-Fernverkehr. Im Tram, im Bus oder in der S-Bahn darf man sich ganz ungefragt hinsetzen und notfalls auch mit sanfter Gewalt gegen wildfremde Zeitgenossen ankuscheln.

Schniefbruder

Stellen Sie sich vor, ein wildfremder Fahrgast im gleichen Abteil zieht den Naseninhalt ständig hoch, anstatt sich zu schneuzen. Ich hätte ihm eigentlich gerne ein Taschentuch gegeben, aber_... Karin S., Luzern

..._aber was? Warum haben Sie ihm denn kein Schneuztuch gegeben? Es hätte ihm, Ihnen selbst und allen anderen Mitreisenden geholfen! Eine solch freundliche Handreichung darf man ohne weitere Hintergedanken leisten. Der Schniefbruder gegenüber kann ja, falls es ihm wirklich nicht ums Reinigen seiner Atemwege geht, auch dankend ablehnen. Wahrscheinlicher ist aber, dass er ihr Angebot freudig angenommen und damit die unangenehme Situation im wahrsten Sinne aus der Welt gepustet hätte. Aber eben: Sie waren unsicher, ob der mutmasslich Erkältete gegenüber ihren Wink mit dem Zaunpfahl als Frechheit empfunden hätte. Wer in Gesellschaft anderer reist, der darf sich ganz entspannt mit den übrigen Anwesenden auseinandersetzen und gegebenenfalls auch mit ihnen kommunizieren. Das ist ja das Schöne am öffentlichen Verkehr: Man lernt mühelos andere Menschen kennen, und wenn es nur für eine Minute ist. Nutzen Sie diese kleinen Momente der Menschlichkeit intensiver, indem Sie offensiver kommunizieren! Ein Lächeln oder ein freundliches Wort öffnet Türen und Herzen. «Ich war letzte Woche auch schlimm erkältet», hätten Sie ihm sagen und das Paket mit den Papiertaschentüchern hinhalten können. Kein noch so gefühlskalter Mensch würde eine solche Freundlichkeit abschlagen. Ausser, wenn Sie ihm ein bereits benutztes Stofftaschentuch anbieten – aber das wollen wir nun mal nicht hoffen!

Der Vorhang fällt

Ich ziehe bei der Zugfahrt gerne das Rollo vor dem Fenster, weil der Bildschirm meines Laptops dann einen besseren Kontrast anzeigt. Muss ich dabei auf die Wünsche anderer Mitreisender Rücksicht nehmen? Timm D., Basel

Es ist leider tatsächlich nicht jedem vergönnt, während einer Bahnfahrt einfach nur aus dem Fenster zu schauen und geniessen zu dürfen. Schliesslich ist Zeit heute bares Geld, und wo hat man denn noch ungestört so viel Zeit wie im Zug? Arbeiten Sie also, was das Zeug hält! Wenn Sie sich zuerst in ein noch leeres Abteil gesetzt haben und das Rollo gezogen haben, so ist dies von den Mitreisenden zu akzeptieren, die sich später dazu setzen. Was hingegen nicht geht: wenn Sie sich zu jemandem dazusetzen und ihm, ohne zu fragen, den Vorhang vor der Nase ziehen. Dies muss der andere nicht akzeptieren. Er darf gemäss den Gesetzen des gesunden Menschenverstands fordern, dass Sie Ihre unangekündigte Aktion rückgängig machen.

Statt nun aber wie Kinder das Rollo rauf und runter zu ziehen und Gehässigkeiten auszutauschen, soll man sich mit freundlichen Worten verständigen. Fragen Sie erst einmal, ob der andere unbedingt aus dem Fenster schauen will. Vielleicht reicht es, das Rollo auf halbe Fensterhöhe zu ziehen? Haben Sie geprüft, ob Ihr Rechner all seine Systemreserven bezüglich Bildschirmhelligkeit ausgeschöpft hat? Auch eine gute Lösung: tauschen Sie die Sitzplätze mit dem Gegenüber. Denn es passiert ja höchst selten, dass die Sonne spontan ihre Position am Firmament wechselt. Und wenn das dann doch einmal geschieht, sollten sogar Sie hinschauen.

Jung gegen alt

Immer wieder stelle ich (19) fest, dass die Leute der älteren Generation die Jungen beschimpfen. Sie seien laut, unordentlich und unhöflich im Zug. Aber genau dies sind sie ja selbst, sie besetzen unnötig Platz oder drängeln sich vor! Stefan B., Altdorf

Der Konflikt der Generationen ist ein Dauer-thema im Bahnverkehr. Kein Wunder, denn hier kommen sich Alt und Jung so nah wie sonst nirgends im Leben. Sie sind mit den Eigenheiten des anderen schonungslos konfrontiert. Die Alten empfinden die Jungen als rüpelhaft und ungebildet, während umgekehrt mangelnde Toleranz moniert wird. Ich werde mich weder für die eine noch für die andere Fraktion in Szene setzen, sondern ein paar vermittelnde Grundwerte einstreuen. Die Jüngeren sind gut beraten, ihre Formen im Kontakt mit älteren Menschen etwas zu pflegen – vielleicht hilft es, wenn man sich vorstellt, dass die Person, die einen ärgert, der eigene Opa oder die eigene Oma wäre. Man möge sein Telefon auf lautlos stellen oder den MP3-Player nur so laut einsetzen, dass andere Menschen nicht vom nervtötenden «mmttss, mmttss, mmttss» betroffen sind. Das wäre das Mindeste – weiteres nicht ausgeschlossen. Und die Älteren mögen ihre albernen Generations-Phobien ablegen, wenn sie sich das Vergnügen gönnen, öffentlich zu verkehren! Jüngere Menschen trachten einem nicht zwingend nach Leib und Leben, weil sie ein bisschen speziell angezogen sind. Noch sind sie in jedem Fall dumme Trottel, die es fernzuhalten gilt, nur weil sie Kopfhörer auf dem Kopf haben. Wie würde man den eigenen Enkel ansprechen? Eben.

Anstandspause

Muss ich mein Mobiltelefongespräch unterbrechen, wenn der Kondukteur kommt und mein Billett sehen will? Walti W., Zürich

Ich bitte Sie, lieber Walti – ist das eine Frage oder nur eine Provokation, um mich zu testen? Ganz selbstverständlich unterbrechen Sie Ihr Gespräch, was denn sonst! Der uniformierte Mann, der an ihren Sitzplatz herangetreten ist, hat sich beim Betreten des Waggons immerhin die Mühe gemacht, die anwesenden Reisenden zu begrüssen, und in aller Regel bedankt er sich auch bei jedem Einzelnen, dessen Billett er geprüft oder entwertet hat. Er ist höflich und hält sich an die Formen, und deswegen sollten Sie es auch.Nicht nur der Respekt vor dem Dienst tuenden Menschen, sondern auch der Rang des Kondukteurs gebietet es, Ihr Handygeplauder für den kurzen Moment der Billettkontrolle sein zu lassen: Der Chef im Zug ist für die Dauer Ihrer Reise Ihr Vorgesetzter. Er hat die Kontrolle, in guten wie in schlechten Momenten. Und es ist nur anständig, wenn Sie Ihre Wertschätzung gegenüber dieser Aufgabe anzeigen, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit für die paar Sekunden auf ihn richten. Sie hören ja im Büro auch mit dem Nasenbohren auf, wenn der Chef reinkommt, hoffe ich Nach der Kontrolle können Sie Ihre drahtlose Konversation in beliebiger Länge wieder aufnehmen. Sie müssen die Verbindung in der Zwischenzeit auch nicht zwingend kappen, sondern können es Ihrem Gesprächspartner sicherlich zumuten, fünf Sekunden stumm zu warten, während Sie den Kondukteur begrüssen und Ihr Ticket vorweisen. Dies gilt nicht nur für die ordentliche Kontrolle auf den grossen Linien, sondern auch bei unverhofften Stichproben im urbanen Nahverkehr.

Verkehrte Welt

Warum sind eigentlich die Sitz-plätze in Fahrtrichtung («fürschi fahre») immer zuerst besetzt? Benedikt S., Zurich

Es ist eine Art von archaischem Reflex, der die Menschen zuerst die Sitzplätze in Fahrtrichtung einnehmen lässt – einen pro Abteil, versteht sich, und meistens zuerst den am Fenster. Erst danach füllen sich die anderen Plätze. Mit logischen Argumenten lässt sich dies nicht erklären. Untersuchungen haben eindeutig gezeigt, dass man besser mit dem Rücken zur Fahrrichtung fährt, denn wenn so eine Zugkomposition einmal aus den Schienen springt oder auf ein Hindernis auffährt, wird man nicht nach vorne katapultiert, sondern «nur» in den Sessel gedrückt. Es muss eine andere Erklärung für dieses in allen Ländern und Kulturkreisen übliche Reiseverhalten geben. Und diese könnte evolutionsgeschichtlich sein bzw. in der frühen Rezeption von Mobilität liegen. Unsere Vorväter sassen einst mit der Nase nach vorne auf dem Pferd. Und ein Kleinkind lernt, sein Dreirad nach vorne hin zu bewegen, so wie später das Trottinett oder das Automobil. Also strebt der Mensch später im Leben auch nach vorne, selbst wenn man mit der aktiven Fahrtätigkeit gar nichts mehr zu tun hat. Ich empfehle übrigens grundsätzlich den rückwärts gewandten Platz am Gang. Erstens ist der meistens noch frei, zweitens sitzt man zum Gang hin bei Vollbesetzung des Abteils weniger beengt und drittens ist es wunderbar, die Welt draussen «in verkehrter Richtung» an sich vorbeiziehen zu sehen. Die Welt gleitet von einem weg, und das entspannt ganz eindeutig stärker, als wenn alles im Schnellzugtempo auf einen zuschiesst. Probieren Sie es aus!

Swinger-Bar-Bahn (SBB)

Kürzlich hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, im gleichen Abteil mit einem Paar zu sitzen, das sich während der Fahrt gegenseitig die Füsse massierte. Was halten Sie von solch öffentlicher Intimität? Erich G., Zürich

Es ist ein eigenartiges Ritual frisch verliebter oder auf permanenten Kuschelkurs bedachter Paare, wenn die Dame aus ihren Schuhen schlüpft und ihrem Partner die bestrumpften Füsse zum Kneten hinhält. Als Beobachter hofft man nur, dass die Strümpfe bzw. die Schuhe einigermassen frisch waren bzw. dass man dem Mann nicht plötzlich die Hand geben muss. Ich bin jeweils sehr hin- und hergerissen zwischen Entzücken über diese spontanen Intimitäten und Entsetzen über die öffentliche Zurschaustellung derselben. Wenn die Dame hübsche Füsse hat und der Mann elegante Hände, mag man einen Moment des Glücks mitempfinden, aber das ist doch eher selten der Fall. Und was Sie beobachtet haben, lieber Leser, also gegenseitiges Massieren der Füsse, das übersteigt meine recht dehnbaren Vorstellungen von Toleranz doch deutlich. Als Faustregel würde ich sagen: Ein spontanes Küsschen und eine herzliche Umarmung sind fein, aber die meisten anderen Formen der intimen Zuneigungsbezeugung eignen sich nicht für den öffentlichen Verkehr. Dazu gehören Kuscheln, Streicheln (unter den Kleidern) oder feuchtschmatzendes Knutschen in Anwesenheit anderer Passagiere. Die Bahn ist ja trotz allem Komfort, der inzwischen geboten wird, kein Swinger-Club. Man befindet sich in Gesellschaft, und entsprechend hat man seine Ekstase etwas zu zügeln.

Arbeitstiere

Ich bin etwas beelendet über die vielen Laptops, die ich auf längeren Fahrten immer sehe. Haben die Leute denn unterwegs nichts Schöneres zu tun? Martha G., Wohlen

Was schlagen Sie denn vor? Sollen sie eine Staffelei aufstellen, die Ölfarben auf einer Palette anmischen und die vorbeiziehende Landschaft malen? Dazu fahren die Züge heute doch zu schnell. Sollen sie die geistlosen Kürzesttexte der herumliegenden Gratiszeitungen auswendig lernen und rezitieren? Oder die Füsse hochnehmen und im Lotussitz meditieren? Dann würden die Polster ja schmutzig.

Es ist so: Diese vielen Laptops werden benutzt, um die Produktivität dieses schönen Landes hoch zu halten und darauf gescheite Dinge zu gebären. Ich kann Ihnen aus meiner über fünfjährigen Zeit als Langstreckenpendler sagen, dass die Texte, die auf Zugfahrten entstanden, zu meinen besten gehörten. Denn nirgendwo arbeitet man so konzentriert und ungestört wie im Zug. Das Schaukeln des Waggons löst die schönsten Gedankenketten aus. Ich habe ganze Bücher im Cisalpino zwischen Mailand und Zürich oder im TGV auf dem Weg nach Paris verfasst! Also: Nicht die Laptopbenutzer, sondern Sie müssen etwas verändern – nämlich Ihren Blickwinkel neu justieren. Laptops sind nicht böse, sondern die Freunde der Menschen.

Seien Sie also so nett und geben Sie die Plätze frei, an denen es eine Steckdose unter dem Tischchen hat, damit ein Laptop-Mensch mit müdem Akku wieder zu Kräften kommen kann. Auf dass mit den verschmähten Geräten noch mehr Schönes entwickelt wird!

Drängler

Wie begegnet man der Barbarei des Hineinstürmens in den noch vollen Bahnwaggon, der sich erst entleert? F. Codet, Vevey

Das habe ich mich auch schon gefragt. Kaum geht die Türe auf, drücken sich gewisse Zeitgenossen in den Wagen hinein, vorbei an den aussteigenden Passagieren, um sich möglichst ein ganzes Abteil zu sichern und dort ihre Jacken und Taschen auszubreiten.

Die vermeintlich ganz Schlauen steigen bei der ersten Klasse ein und mogeln sich dann durch die Zwischentüren auf «pole position». Das Leben ist ein unablässiger Kampf, ein Langstreckenrennen – mit dieser Überzeugung müssen jene Menschen wohl ausgestattet sein.

Man kann seinen Unmut über den vorbeidrängenden Rohling lauthals kundtun; aber das wird wohl wenig fruchten, da diese sich ja ihrer Grobheit längst bewusst sind und Negativreaktionen bei ihrem Tun bewusst in Kauf nehmen. Erfahrungsgemäss überhören solche Menschen jeden Tadel, als ob sie taub seien. Es hält sie nichts und niemand von ihrem kleinen sportlichen Alltags-Intermezzo ab.

Das Einzige, was man also tun kann, ist – wie so oft – das Vorangehen mit gutem Beispiel: Halten Sie anderen Menschen die Türe auf, lassen Sie diese galant vorbei, indem Sie bewusst ein Stück zur Seite treten und das Ganze mit einem Lächeln begleiten. So machen Sie andere darauf aufmerksam, wie viel angenehmer das Leben mit solch kleinen Höflichkeiten sein könnte – für alle.

Perron-Spucker

Wie begegnet man der grassierenden Unsitte des Spuckens auf dem Bahnsteig und auf öffentlichen Plätzen und Strassen? T. Schnyder, Dübendorf

Werter Leser, ich bin da auch immer ganz hilflos, beelendet und am Ende meiner Weisheit, wenn ich diese abgelöschten Halberwachsenen sehe, die überall und permanent herumkoddern – kein schönes Kapitel, das Sie mir hier abnötigen.
Man muss versuchen, dieses Ritual zu verstehen, um es zu begreifen, wenn auch nicht zu akzeptieren. Das Herumspucken muss eine archaische Art sein, das Terri_torium abzustecken – etwa so, wie wenn Kater ihr Revier markieren. So macht der meist mit flatternden Synthetikhosen oder herabhängenden Jeans bekleidete männliche Jugendliche sich bewusst, wer er ist und wo er hingehört. Vielleicht ist es auch eine Spur, die das hirnlose Wesen legt, um den Weg zurückzufinden? Es könnte auch sein, dass in den Köpfen dieser Herumspuckenden soviel Elend vorhanden ist, dass man den dadurch entstehenden schlechten Geschmack in den Hohlräumen des Hauptes durch ständiges Spucken regulieren muss?

Man kann also nur eines tun: Seinen Unmut sichtbar artikulieren, indem man angewidert stehen bleibt, den Kopf schüttelt oder einen demonstrativen Bogen um die Spuckflecken macht. Eine verbale Ermahnung muss man sich leider gut überlegen, will man nicht auch noch selber angespuckt oder in ein Handgemenge verwickelt werden.

Haarfett-Spuren

Mich ekeln beim Zugfahren oft die verschmutzten Scheiben der Waggons. Bin ich mit dieser Phobie alleine? Inga R., Brunnen

Es ist schon erstaunlich: Heute findet man zu jedem noch so obskuren Suchbegriff alles Unmögliche beim Internet-Suchdienst Google – aber zu den Dingen, die einem als Benutzer der öffentlichen Verkehrsmittel täglich ins Auge springen, erscheint nichts. Suchen Sie mal nach «Haarfett am Zugfenster»: Mattscheibe! Da kommt gar nichts. Dabei ist das doch nun wirklich etwas sehr Alltägliches.

Sie wissen, was ich meine? Diese verschmierten Spuren in der unteren Ecke von Zug- und Tramfenstern, die jemand dort hinterlassen hat, der sein nicht gänzlich frisch gewaschenes Haupt beim Einnicken dagegen gelehnt hat. Das gibt es wirklich in jedem Zugwaggon: Haarfett am Zugfenster. Es ist ja nicht zu vermeiden. Oder doch? Ich meine: Es wäre schon zu vermeiden. Aber nicht, indem man allen Benutzern der Schweizerischen Bundesbahnen auf dikta_torische Weise Haarwaschpflichten aufer_legen würde, bewahre. Denn wer könnte das überhaupt kontrollieren? Zu vermeiden wäre drum nicht das Herstellen, wohl aber das Zurücklassen von Haarfett-Spuren am Zugfenster. Indem jeder, der eingepennt ist, vor dem Verlassen seines Abteils kurz mit einem Lappen oder auch dem Ärmel seines Hemdes darüber wedeln würde. Das Leben als Pendler wäre wieder ein kleines, aber nicht unerhebliches bisschen schöner!

Erste oder zweite Klasse?

Gibt es als 1.-Klasse-GA-Besitzer einen Grund, die 2. Klasse zu wählen? Miles K., Zürich

Guter Einwurf – aber wahrscheinlich eine Fangfrage mit philosophischer Tiefenwirkung? Denn die grosse Mehrheit der 1.-Klasse-GA-Besitzer würde dies wohl nicht mal im Traum erwägen.

Also will ich versuchen, die gestellte Falle zu umgehen, bevor ich in sie reintappe. Einfach «Nein» zu antworten, wäre ja zu banal. Es muss ja gewiss gute Gründe geben, auch mit einem Erstklass-Billett ins Abteil zweiter Klasse zu wechseln. Etwa, wenn neben dem einzigen freien Platz erster Klasse ein grosser stinkender Hund schläft. Dann doch lieber den süss-herben Menschengeruch der Volksklasse. Oder: wenn man in Randstunden nicht mehr weite Strecken gehen mag, der Erstklasswagen aber am anderen Ende des Zu_ges angehängt ist. Dann setzt man sich doch gemütlich und stressfrei auch in die 2. Klasse. Zumal sich diese in den meisten Zügen moderner Bauart punkto Design und Komfort kaum mehr von der 1. Klasse unterscheidet. Den Mehrwert, den man dort heute bekommt, ist ja kein greifbarer mehr, sondern ein immaterieller: Man ist weniger harsch mit der Masse des Verkehrsstroms konfrontiert, an dem man teilnimmt. Und: Wenn Sie zu geizig sind, einem guten Freund mit 2.-Klasse-Ticket ein «Upgrade» zu offerieren, dann setzen Sie sich selbstverständlich zu ihm in die zweite Klasse. Gute Fahrt!

Bahntalk

Worüber soll man mit anderen Reisenden im Zug am besten plaudern – und worüber nicht? Karl G., Kollbrunn

Etwas vom Besten am Zugfahren ist der Umstand, in anderer Leute Leben eintauchen zu können, ohne das gewollt zu haben. Wer sich in einem voll besetzten Zug geschickt hinsetzt, kann unter Umständen Stoff für ganze Kabarettabende zusammenlauschen! Wer parliert, der wähle sein Thema mit Umsicht aus. Über den Chef oder die Kollegen im Büro schimpfe man besser nicht zu öffentlich. Überhaupt lässt sich das Thema verkürzt so regeln: Wer über Menschen spricht, tut dies im neutralen oder lobenden Sinne. Gemecker gerät fast immer irgendwo auf die falsche Schiene. Beim Smalltalken gilt es, grundsätzlich im positiven Bereich zu bleiben. Über Bekanntschaften hinaus gibt es ein paar weitere garantierte Ablöscher-Themen für Gespräche während Bahnfahrten. Dazu gehören mit Sicherheit persönliche Ansichten zu Politik und Religion, denn damit brüskiert man mit grosser Sicherheit jemanden.Welche Themen funktionieren dagegen garantiert? Tun Sie es wie der Smalltalk-König Bill Clinton: Hören Sie ganz gut zu. Und haken Sie an kleinen persönlichen Bemerkungen Ihres Gegenübers ein, um Vertrauen aufzubauen und daraus neue, unerwartete Fäden zu spinnen. Am Ende der Fahrt sind Sie vielleicht eine Freundschaft reicher.

Die Fussball-Falle

Mir graut davor, während der EM mit euphorisierten Fussball-Fans Zug fahren zu müssen, denn ich konnte mich zeitlebens nicht für die Kickerei begeistern. Wie meistere ich diese heikle Zeit einigermassen würdevoll? Stephan R., Rorschach

Lieber Leidensgenosse, ich kann Ihnen sehr nachfühlen, teilen wir doch dieses stark ausgeprägte Desinteresse gegenüber dem gepriesenen Spiel ums Leder. Aber nun gut, man muss dieses Unwissen ja nicht an die grosse Glocke hängen und sein eigenes Desinteresse an Fussball auch nicht zur Gegenkultur hochstilisieren. Damit schafft man sich unter echten Fussballnarren erfahrungsgemäss schnell Feinde.

Mein Rat für die Pendlerei in der EM-Zeit wäre also: Versuchen Sie, Ihre beruflichen Arbeitseinsätze sowie die urbanen Freizeitaktivitäten mit dem EM-Spielplan abzustimmen. Es wird ja im Juni nicht pausenlos auf den Ball gedroschen, sondern «nur» zu ganz bestimmten Zeiten. Damit gehen Sie dem Gröbsten aus dem Wege. Sollten Sie trotz dieser Massnahmen unverhofft auf eine Horde enthemmter Hooligans treffen, die gerade einen Waggon auseinandernehmen, so versuchen Sie erst einmal, deren «Couleur» zu identifizieren, um notfalls eine entsprechende Parole zu skandieren, bevor Sie sich aus dem Staub machen. Sie könnten sich auch spontan als Fan einer Mannschaft outen, die gar nicht am Turnier teilnimmt. Bis die angeheiterten Wüstlinge begriffen haben, was abgeht, sind Sie schon längst zwei Waggons weiter.

Achtung, Schwertransport!

Ist es noch normal, wenn Leute mit zwei Koffern reisen? Hansjürg W., Sargans

Leises Mitleid regt sich, wenn man sich all die schwer bepackten Horden ansieht, die am Wochenende in Richtung Perron straucheln: In ihrer Unentschlossenheit (oder Desorientiertheit?) haben sie für den dreitägigen Städtetrip nach Paris oder Florenz den halben Hausrat eingepackt. Bei den Fluggesellschaften gilt wenigstens die eiserne Regel: Maximal zwanzig Kilo gehen in der «Holzklasse» mit, danach ist der Übergepäck-Zuschlag fällig.

Man fragt sich: Warum erhebt die SBB keine Strafzölle für diese Zeitgenossen, die ihre ganzen Besitztümer mitschleppen? Weil die SBB sich als sympathische Alternative zur allgemeinen Freizeitfliegerei positionieren will. Und weil in erster Linie die Mitpassagiere den Ärger mit den reisenden Hamstern haben – sollen sich die anderen doch mit verstellten Gängen und von den Gepäckablagen herabstürzen_den Trümmern herumschlagen! Dennoch wäre es angebracht, auch bei terrestrischen Reisen das Gepäck freiwillig kompakt zu halten. Schliesslich reist man, um Neues, gar Unbekanntes zu entdecken! Will heissen: Packen Sie light, das Reisen ist schwer genug! Für eine Woche reichen zwei Outfits komplett aus – Pullover und Mantel zieht man gleich an, und fertig ist das Gepäck. Und dafür braucht man eine bessere Weekend-Tasche, aber sicher keinen Rollkoffer im Format eines Pygmäen-Sarkophags.

Stopp der Banalität!

Darf ich mir die Handygespräche meines Sitznachbarn im Zug ungeniert mit anhören, oder soll man versuchen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren? Sabine E., Basel

Es ist, die werte Leserin hat da vollkommen Recht, kaum auszuhalten, von welch brüllender Banalität die meisten Konversationen sind, die man im alltäglichen Pen_delverkehr mithören muss. «Hey, wo bisch?» oder «Wa machsch?», gefolgt von «Fahr grad hei» oder ähnliches. Blablabla und Palaver – zelebrierte Langeweile, die sich wie zäher Schleim durch den ganzen Zugwagen ausbreitet.
Muss man sich das mit anhören? Wohl oder übel, es gibt kaum andere Optionen, als betreten zum Fenster rauszuschauen und sich zu wundern. Man kann ja schlecht plötzlich ein Lied singen, um das Plaudergeplätscher zu übertönen. Wohl aber kann man mit gutem Beispiel vorangehen und sein eigenes Telefon still schalten. Anrufe soll man nur dann entgegennehmen, wenn für die weitere (Lebens)- Reise unverzichtbare Neuigkeiten zu erwarten sind. Dann erhebt man sich und geht raus in den Gang oder in ein anderes Abteil, wo niemand mithört. Ansonsten lässt man den Anrufer auf die Combox brabbeln oder ins Leere laufen. Und schreibt dann eine SMS zurück, dass man sich vom Zielbahnhof aus meldet. In Frankreich gehört dieses Vorgehen unter dem Motto «Super Message Silencieuse» (SMS) schon weitherum zum guten Ton. Und nicht vergessen: bitte auch den SMS-Signalton deaktivieren!

Flossen hoch!

Spricht etwas dagegen, wenn ich auf dem Heimweg meine Schuhe ausziehe und die müden Füsse unter einer Zeitung auf die Bank gegenüber lege? Matthias M., Wädenswil

Geschätzter von der Arbeit ermatteter Reisender, das kommt ein bisschen auf die Umstände an! Ich nehme an, Sie leben und arbeiten im Grossraum Zürich, wo abends im öffentlichen Verkehr ein derartiges Gedränge herrscht, dass an eine solche Aktion vernünftigerweise gar nicht zu denken ist. Ich würde dies also nur zu absoluten Randstunden tun, wenn es sicher keiner sieht. Wenn aber im Abteil daneben jemand sitzt, geschweige auf derselben Bank, auf die Sie Ihre Flossen legen, dann lassen Sie es tunlichst sein! Denn es muss niemandem zugemutet werden, die Strümpfe seiner Mitmenschen zu inspizieren. Kommt dazu: Vermutlich haben zu diesem Zeitpunkt nicht nur Sie selbst, sondern auch Ihre Füsse schon einige Arbeit geleistet und sind entsprechend – sagen wir mal – nicht mehr ganz frisch. Da nützt also auch die Zeitung nichts, die Sie zum Schutze des Polsters unter die dampfenden Sohlen legen.

Unser Rat lautet also: Lagern Sie Ihre Füsse nur dann hoch, wenn Sie es mit Ihrem eigenen Sittlichkeits- und Stilgefühl vereinbaren können. Und wenn Sie schöne Socken ohne Löcher tragen, etwa solche von Gallo. Noch ein kleiner Tipp: Kaufen Sie sich gute Schuhe aus Leder, mit einer rahmengenähten Ledersohle. Ihre Füsse werden weniger das Gefühl haben, eingesperrt gewesen zu sein.

Private Rituale

Was ist davon zu halten, wenn sich junge Damen auf dem 6.30-Uhr-Zug morgens vor allen anderen Mitreisenden schminken? Jolanda R., Arbon

Nun ja, werte Leserin, Ihre Frage ist suggestiv gestellt: «Was ist davon zu halten?» Mir scheint, Sie halten selbst nicht viel davon – und wissen Sie was? Ich neige spontan dazu, mich auf Ihre Seite zu schlagen! Denn ich habe es in meiner «Aktivzeit» als Ostschweiz-Pendler oft genug selbst erlebt, wie 16-jährige, von der zurückliegenden Nacht noch völlig ermattete Girls in ihren Kulturbeuteln kramen, die Spiegelchen zücken und sich mit grösster Gelassenheit für den Alltag fein machen.  Aber wir wollen nicht zu streng sein mit den Kids, die ohnehin für alles, was sie tun, an den Pranger gestellt werden, und ihnen eine gewisse juvenile Narrenfreiheit gönnen. Immerhin macht Schminken keinen Lärm. Deshalb gilt: Wer noch nicht zwanzig ist und es mit Würde und Anmut hinbekommt, sich in einer voll besetzten S-Bahn mit all seinem Geruckel und Gedränge zu schminken, der darf eigentlich schon fast eine Mütze aufstellen, in die andere Passagiere eine Münze werfen sollten. Alle anderen, insbesondere reifere Damen, die dieses Ritual nicht in den eigenen vier Wänden hinbekommen, sollten dringend zum Zeit­management-Doktor. Denn Schminken ist wie Zähne putzen, Nasenhaare zupfen oder Nägel schneiden ein privates Theater, das man am besten nicht vor wildfremden Menschen aufführt.

Krachmacher


Darf man lärmende, die Fahrgäste provozierende Jugendliche zurechtweisen? Und wie tut man das, ohne wie der letzte Spiesser zu wirken? S. Meister, Bremgarten

Die Sache ist die: Früher fielen zivilisierten Menschen diese lärmenden Kids nicht so auf, weil diese sich üblicherweise im Raucherabteil zusammenrotteten. Seit die SBB aber nur noch als rauchfreie Institution durchs Land rollt, verteilt sich der anarchistische Mob auf die ganze Zugskomposition. In diesem Sinne, aber wirklich nur in diesem, ist die Abschaffung der Raucherwagen zu bedauern. Doch wo wir schon bei Genussgiften sind: Wie wäre es, das Problem mit eigenem Gift zu bekämpfen? Lärmen Sie zurück, schmettern Sie aus voller Brust eine Arie! Wetten, dass dann bei den Krach­machern eine Weile Ruhe ist?   

Ich plädiere alternativ für aufdringlichstes Fraternisieren mit den Übeltätern: Man geht ihnen wortlos derart auf den Geist, dass sie sich von selbst verkrümeln. Setzen Sie sich direkt ins Abteil zu den Krachmachern und hören Sie konzentriert zu; vielleicht nicken Sie auch anerkennend, wenn einer besonders laut rülpst. Oder rülpsen Sie mit! Analysieren Sie den biologischen Vorgang der Aerophagie und des dadurch verursachten Aufstossens wortreich! Denn wenn renitente Jugendliche etwas gar nicht leiden können, dann sind es Nicht-Jugendliche, die sich ihnen freundlich anbiedern. Gute Reise!

Nachlese


Im Zug lasse ich gelesene Zeitungen oder Zeitschriften schön gefaltet zurück in der Annahme, jemand anders werde sich über diesen Lesestoff freuen. Was hal-ten Sie von solchen Geschenken?   H. P. Brugger, Basel

Edler Spender! Gelobt sei Ihr Grossmut, Ihre Selbstlosigkeit und Ihre Weisheit, anderen Menschen mit ihrer «verbrauchten» Lektüre nicht nur Kurzweil zu bereiten, sondern damit auch einen sinnvollen Beitrag zur Volksbildung zu leisten. Ich persönlich freue mich immer über solchen «Nachlass», wenn ich einen Zug besteige. Ein schönes «Geo», ein forscher «Spiegel», eine anspruchsvolle «NZZ», von mir aus auch ein unterhaltsamer «Tages-Anzeiger» – sicher ein willkommenes Geschenk, das nicht lange liegen bleibt. Allerdings habe ich in der Gepäckablage auch schon den «Schweizerischen Sexanzeiger» oder eine «Waffen-Revue» gefunden – dies sind wohl nicht ganz so sinnvolle Überlassungen. 

Ich bin mir aber nicht sicher, ob die SBB, die jährlich Tausende Tonnen liegen ge­lassenes Papier entsorgen muss, diese Art von «Geschenk» auch so gut findet.  Immerhin hat sie in den Pendlerzügen «Tauschboxen» zur Wiederverwertung gelesener Papiere installiert. Was dort aber sicher nicht hinein gehört, sind Werbebeilagen oder die weitgehend inhaltslosen Gratisblätter, die ohnehin schon überall die Umwelt belasten. Diese gehören umgehend entsorgt – aber im Kübel, nicht auf der Gepäckablage!

Der Kampf ums Tischchen


Im 1.-Klasse-Abteil ist zwar noch ein Fensterplatz frei, dafür hat mein Gegenüber den ganzen Tisch mit seinen Utensilien belegt. Wie erobere ich mir stilvoll meinen Anteil an der Ablagefläche?   Hugo B., Büttikon

Manche Menschen glauben, dass man auch im Zug nach dem populären Prinzip «Dä schnäller isch dä gschwinder» verkehrt und sich rasch und rücksichtslos einen maximalen Raumanteil erobern darf. Natürlich handeln sie nicht nur dummdreist und rücksichtslos, sondern auch falsch: Der öffentliche Verkehr heisst ja so, weil sein Raum ein öffentlicher ist und sich darin niemand private Rechte sichern kann. Es gilt vielmehr das Primat der Rücksicht, des gegenseitigen Respekts und der Kulanz.

Den Raumräuber, den Sie beschreiben, können Sie also, wenn Sie formulierungssicher und schlagfertig sind, mit zwei, drei Fangfragen entlang den oben beschriebenen Grundsätzen schachmatt setzen und ihm so seine eigene Rücksichtslosigkeit elegant vor Augen führen, immer mit einem kühlen Lächeln auf den Lippen.
 
 Die weniger elegante, aber sicher erfolgreiche Methode ist der Zermürbungskampf um Zentimeter: erobern Sie sich Ihren Anteil zurück, indem Sie wortlos und ganz selbstverständlich kleine, dann immer grössere persön­li­che Dinge auf den Tisch legen. Dies kann mit einem einfachen Kugelschreiber beginnen! Wetten, dass Sie bald Platz bekommen?

Ohne Besteck und pannenfrei


Darf oder soll man in öffentlichen Verkehrsmitteln mitgebrachte Lunchpakete verspeisen? Elwira S., Aarau

Es ist manchmal schon fast Komik, wenn man als Reisender mit anschauen muss, wie andere Menschen zwischen zwei Haltestellen ihr Mittagessen in sich hineindrücken. Wenn Sie Glück haben, schmatzen und schnaufen sie dabei bloss. Dümmer ist’s, wenn sie dazu noch tropfen und schmieren. Wer sich bewegt, verbrennt Kalorien und muss sich ernähren – vielleicht auch im Zug. Dafür gibt es Speisewagen. Und die Wägeli («Bier, Sandwich, Mineral!»), in denen aller­hand mehr oder minder Gesundes angeboten wird. 

Aber selbst beim grössten Hunger ge­ziemt es sich, Rücksicht gegenüber seinen Mitmenschen an den Tag zu legen. Das beginnt bei der Wahl der mitge­brachten Speisen. Heisser Food, der dampft und stark riecht, sollte auf dem Perron verzehrt werden. Ausserdem wäre es schön, wenn die Esswaren pannenfrei und ohne Besteck verzehrbar wären – ein Biberli oder ein Apfel erfüllt dieses Kriterium, ein mit saftigen Saucen durchtränktes Sandwich oder ein knackiger Salat aber nicht. 

Und ein Tipp für jene, die sich über Essende im Zug aufregen: Meckern Sie nicht, sondern sprechen Sie darüber.  Erzählen Sie am besten von einem wunderbaren Restaurant. Damit zeigen Sie ebenso schonungslos wir raffiniert, welchen Ort Sie für passend halten, ein ganzes Menü zu essen. En Guete, und gute Reise!

Höflichkeit versetzt Berge

Muss man auf der Suche nach einem Sitzplatz in der Bahn nach dessen Verfügbarkeit fragen?  Sandro B., Winterthur

Ausländischen Besuchern unseres Landes kommt das reichlich fremd vor: «Schnofrei?» Warum bloss sagen das die Schweizer ständig in der Bahn? Natürlich heisst es in korrekt artikuliertem Deutsch «Ist hier noch frei?», und verwendet wird die Frage immer dann, wenn sich jemand im Zug zu einer anderen, ihm unbekannten Person setzen möchte. Das muss sein. Eine Ausnahme bilden Reisen im städtischen Nahverkehr, wo man sich ungefragt zu anderen setzt.

Wir meinen: «Schnofrei?» ist zu wenig der Form und Bemühung. Und im Grunde ist die Frage ja auch kreuzfalsch gestellt: Ob ein Platz frei oder besetzt ist, erkennt man daran, ob dort jemand sitzt oder nicht. Wenn dort einiges an Jacken und Taschen liegt, bedeutet das nämlich noch lange nicht, dass schon jemand auf diesem Platz seine Reise angetreten hat. Es könnte auch nur ein sozial unterentwickelter Zeitgenosse sein, der sich Mitmenschen vom Leib zu halten versucht – eine schlimme Verfehlung. 

Korrekt müsste man fragen: «Darf ich mich zu Ihnen setzen?» Oder noch höflicher: «Würde es Sie stören, wenn ich mich zu Ihnen ins Abteil setzte?» Es kostet ja nichts, ein paar schöne Worte auszusprechen, also tun Sie’s doch wieder mal. Sie werden staunen, wie viel menschlicher das Bahnfahren durch solche Kleinigkeiten werden kann.