Montag, 3. Mai 2010

Anstandsprotokoll

Tut man es oder tut man es nicht; jemandem die Türe aufhalten, der nach mir kommt; im Zug fragen, ist der Platz noch frei; beim Betreten eines Ladenlokals zu grüssen und sich zu bedanken? Ich (57) komme mir hoffnungslos veraltet vor! Zudem, muss ich mich entschuldigen, wenn ich niesen muss? Verena F., Lachen

Liebe Verena, eine scheue Frage zuerst: sind Sie neu hier? Denn nun verhandeln wir hier seit zweieinhalb Jahren wortreich die wichtigsten Fragen des Stils, des Anstands und des zwischenmenschlichen Augenmasses (im öffentlichen Verkehr), und jetzt kommen Sie, und werfen frech all jene Fragen erneut in die Runde, welche wir hier schon alle durchgekaut haben? Tss. Aber nun gut, ich will ein Nachsehen haben und ganz blitzschnell auf Ihre drängendsten Fragen antworten. Ja, ja, ja, ja – und nein.

Etwas ausführlicher? Bitte sehr. Die Türe dem nachfolgenden Mitmenschen aufhalten? Ganz selbstverständlich und ohne Ausnahme, es muss ganz automatisch geschehen. Nach einem freien Platz zu fragen? Aber sicher, gerne mit einem sympathischen Grusswort und ein bisschen Eloquenz, also nicht einfach schnoddrig „’schnofrei?“. Beim Betreten eines Geschäfts zu grüssen und sich beim Verlassen desselbigen zu bedanken? Aber klar, allen anderen Kunden sollte man nichts weniger als einen Fusstritt hinterher reichen! Und schliesslich: sich entschuldigen, wenn Sie niesen? Aber nein doch! Sie tun dies ja nicht aus böser Absicht, sondern weil Ihr Körper rebelliert. Dafür muss man sich allerdings nur im Fall von gröberem Auswurf entschuldigen. Eine Hand oder besser ein Taschentuch vor den Mund zu halten, das wäre aber schon das Mindeste.

Wir wünschen gute und stilvolle Fahrt in unseren majestätischen Bundesbahnen!

Völkerwanderung

Ich habe ein Generalabonnement 1.Klasse und fahre leidenschaftlich gerne Zug. Mich stört aber gewaltig, wenn vor der Ankunft an einem Kopfbahnhof die Massenwanderungen nach vorne einsetzen, durch die Wagen 1.Klasse hindurch. Die meisten Vorbeiziehenden besitzen wohl kein Billett für die 1.Klasse. Ist das Nach-Vorne-Wandern überhaupt erlaubt? Daniel H., Zürich

Ein heisses Eisen, das Sie da anpacken, lieber Reisender! Als die „Basler Zeitung“ Ende 2009 den Fall eines Passagiers zweiter Klasse schilderte, der für seine Anwesenheit in der 1. Klasse gebüsst wurde, gingen die Emotionen hoch wie ein zerstörerischer Tsunami. In über 200 Reaktionen wurde aller aufgestauter Pendlerfrust abgelassen, kombiniert mit einer giftigen Mischung aus Sozialneid und Beamtenhass. Sie können alles im Online-Datenarchiv nachlesen.

Tatsächlich ist allein schon der Aufenthalt im Bereich 1. Klasse ohne ein entsprechendes Billett regelwidrig – auch im Gang oder dem Türbereich. Und damit ich jetzt nicht gleich der Blitzableiter für neue Hasstiraden bin: Das habe nicht ICH mir ausgedacht, sondern die Bahn – die im geschilderten Fall aber auch meinte, dass ihre Kontrolleure „gesunden Menschenverstand“ walten lassen sollten. Es gibt also Ermessensspielraum.

Aus Sicht des Stils und der verfeinerten Lebensführung würde ich sagen: das rituelle Nach-Vorne-Wandern ist anderen Menschen potenziell lästig, also sollte man es sein lassen. Auf dem Perron geht man doch wesentlich unbeschwerter und rascher durchs Leben? Andererseits: Öffentlicher Verkehr ist immer auch eine Frage der Toleranz. Vielleicht widmen Sie sich also künftig besser dem vor dem Fenster vorbeiziehenden Gratispanorama statt der Völkerwanderung im Waggon?